Annie Ernaux: Das andere Mädchen
Annie Ernaux wusste anfangs nicht, dass sie eine Schwester hatte. Sie starb noch bevor sie auf die Welt kam. Das Leid der Eltern bekam sie den Erzählungen nach jedoch deutlich zu spüren, da ihre Schwester viel Raum als Tote unter den Lebenden einnahm. Eine sichtlich schwiergie Situation für die Autorin. „Zwei Töchter. Die eine gestorben, die andere fast“ so Ernaux, die sich demnach als Lebende im Schatten der verstorbenen Schwester wie tot fühlte. In diesem eleganten Streifzug durch ihre Kindheitserinnerungen, hat man das Gefühl mitten im Geschehen zu sein. Detailreich wird Vergangenes geschildert. Gefühlsbetont und doch wiederum sachlich werden die Erinnerungen beschrieben. Die Komplexität der Ereignisse bekommt dadurch noch mehr an Gewicht, ohne der Notwendigkeit diese direkt zu erwähnen. Im Laufe der Geschichte wird man an damalige Wertvorstellungen und Handlungsweisen erinnert, die in einem katholischen Umfeld eingebettet sind. Ein Hauch an Gesellschaftskritik streift dieses Werk nebst dem Fokus auf innerfamiliäre Ereignisse. Durch die Art und Weise der Erzählung wird man als ZuhörerIn von der Geschichte inspiriert.
In unterschiedlichen Teilen des Hörbuches lässt Ernaux ebenso Raum für Selbstkritik und der Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung. Hörenswert – bis zum Schluss.
Bei diesem Hörbuch handelt es sich um eine äußerst gelungene Übersetzung aus dem Französischen von Sonja Finck. Die Sprecherin Maren Kroymann entpuppt sich als optimale Wahl für dieses feinfühlige Werk. Mit ihrer sanften und entspannenden Stimme und einem optimalen Sprechtempo, trägt sie wesentlich zum Hörgenuss bei.
Edith Steinwidder